Damals
Jüdisches Leben in Kreuzberg,
Friedrichshain und Neukölln (1918 – 1938)
Der Zeitraum zwischen 1918 und 1938 stellte ein transformatives und instabiles Kapitel in der Geschichte Berlins dar, insbesondere für seine jüdische Bevölkerung. In der Folge der Durchsetzung des ‚Groß-Berlin-Gesetzes‘ von 1920, der Eingemeindung der umliegenden Städte und ländlichen Gebiete, verdoppelte sich die Bevölkerung Berlins annähernd; die Stadt wurde damit zur größten in Deutschland und zu einer der größten und blühendsten der Welt, und angesehen für ihre intellektuelle, kulturelle und politische Dynamik. Während der Weimarer Republik florierte das jüdische Leben und hatte aktiven Anteil am kulturellen, akademischen und wirtschaftlichen Leben der Stadt. Allerdings wurde diese Blütezeit durch die Große Depression von 1929 mit ihren weitreichenden Folgen rund um den Globus, insbesondere aber für Europa, abrupt unterbrochen. Die Wirtschaftskrise brachte großes Elend, politische Instabilität und nicht zuletzt das fortschreitende Erstarken extremistischer Parteien wie jener der Nationalsozialisten. Damit waren die Weichen für die spätere Verfolgung der Berliner Juden gestellt.
Bis in die frühen 1920er Jahre war die jüdische Bevölkerung Berlins auf annähernd 172’000 angewachsen, womit sie ungefähr 4.3 % der Gesamtbevölkerung ausmachte. Es war nicht nur die größte Jüdische Gemeinde in Deutschland, sondern auch eine der lebendigsten in ganz Europa. Die jüdischen Bewohner Berlins waren größtenteils in Vierteln wie dem Scheunenviertel (heute: Mitte) und Charlottenburg konzentriert, aber kleinere jüdische Gemeinten existierten auch in traditionell weniger jüdisch bewohnte Gegenden wie etwa Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg. Die Karte der Ausstellung legt das Augenmerk auf jene Nachbarschaften, deren jüdische Geschichte weniger bekannt ist.
Neukölln: Das Industriequartier
Bis 1920 war Neukölln eine eigenständige Stadt in der Peripherie Berlins und wurde erst mit dem Groß-Berlin-Gesetz zu einem Teil des Großstadtraumes, zusammen mit den Dörfern Britz, Rudow und Buckow. Die Zahl der jüdischen Bewohner Neuköllns belief sich auf etwa 3000, und es handelte sich größtenteils um aus Osteuropa zugewanderte Gruppen, die oft auch in ihren religiösen Bräuchen traditioneller eingestellt waren. Im Jahr 1907 öffnete die Synagoge an der Isarstraße ihre Türen und diente fortan als zentrales jüdisches Gebetshaus sowie als Bildungseinrichtung. Zeitgleich mit der Synagoge wurde auch der ‚Israelitische Brüder-Verein zu Rixdorf‘ gegründet, ein Verein, der für alle möglichen Anliegen der örtlichen Gemeinde zur Anlaufstelle wurde. Im Gegensatz zu wohlhabenderen jüdischen Vierteln lebte in Neukölln eine jüdische Bevölkerung aus bescheideneren Einkommensverhältnissen bzw. aus der Arbeiterklasse, wobei viele ihrer Mitglieder im Kleinhandel, im Handwerk und in lokalen Gewerben tätig waren. Eine bedeutende Ausnahme stellte hier das Warenhaus H. Joseph & Co. dar, das von zwei jüdischen Unternehmern gegründet wurde. Eine weitere bedeutende Figur des jüdischen Lebens war Helena Nathan, die im Jahr 1921 Direktorin der ‚Städtischen Volksbücherei Neukölln‘ wurde.
Viele Juden ergriffen in diesen Jahren die Gelegenheiten zur Assimilation und nutzten die Ausweitung der Bürgerrechte, die ihnen die politische Entwicklung der vorangegangenen Jahre zugesprochen hatte. Dennoch veranlasste das Wiederaufleben des Antisemitismus insbesondere in Osteuropa einige jüdische Gruppen auch dazu, den Zionismus als Alternative zur Assimilation zu propagieren. Die Zionistische Bewegung startete diverse Initiativen mit dem Ziel, junge jüdische Männer und Frauen auf die Emigration nach Palästina vorzubereiten und sie entsprechend auszubilden. Eine dieser Unternehmungen stellte ein Ausbildungsprogramm dar, welches vom Bodenkulturverein organisiert wurde, einer Vereinigung, die der didaktischen Vermittlung essentieller landwirtschaftlicher Kompetenzen verschrieben war. Zu diesem Zweck wurde im Süden von Neukölln Land erworben, auf welchem angehende Siedler sich das praktische Wissen aneignen konnten, das für ein Leben in ihrem zukünftigen Heimatland erforderlich war.
Friedrichshain: Jüdische Arbeit und Sozialismus
Vor dem Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes war das Gebiet, das wir heute als ‚Friedrichshain‘ kennen, unter dem Namen ‚Friedrichsberg‘ bekannt. Dieses ging dann im Zuge der Neugliederung von 1920 in den neugebildeten Bezirken ‚Friedrichshain‘ und ‚Lichtenberg‘ auf.
Ähnlich wie Neukölln war auch Friedrichshain ein Gebiet der Industrie und der Arbeiterklasse. Schon 1896 gründete die Jüdische Gemeinde die ‚Israelitische Gemeinde Friedrichsberg und Umgebung e. V.‘. Die 1905 gegründete Synagoge Lichtenberg an der Frankfurter Allee war die erste Synagoge in dieser Gegend und zeugte vom stetigen Anwachsen der Jüdischen Gemeinde.
In den 1920er Jahren zog Friedrichshain viele Kaufleute, Gewerbetreibende und Unternehmer:innen an, wie etwa Theodor Kabaker; Kabaker besaß eine Holzfabrik an der Frankfurter Allee, die damals im Begriff war, zum kommerziellen Zentrum des Ostens von Berlin zu werden. Viele Juden in Friedrichshain begannen zunehmend, säkulares und sozialistisches Gedankengut zu vertreten und sich an den umfassenderen Klassenkämpfen der Zeit zu orientieren. Bis zum Jahr 1933 hatte die Jüdische Gemeinde in Friedrichshain über 2200 Mitglieder, eine kleine aber bedeutende Präsenz, die die wachsende soziale und politische Dynamik von Berlins jüdischer Bevölkerung widerspiegelte.
Kreuzberg: Der populäre südliche Bezirk
Mit etwa 6000 jüdischen Bewohnern im Jahr 1920, und mit einer Mischung aus Mittelstand und Arbeiterklasse, war Kreuzberg auch mit Blick auf die jüdische Bevölkerung der bevölkerungsreichste der drei Bezirke. Viele lebten in der Nähe der Oranienstraße, wo jüdische Institutionen gediehen. Synagogen wie die am Fraenkelufer und an der Lindenstraße, jüdische Suppenküchen, Kindergärten und Wohlfahrtsorganisationen stellten essentielle Hilfeleistungen für die Gemeinde zur Verfügung. Auch jüdische Theater und Kinos waren Teil der kulturellen Landschaft Kreuzbergs. Ein prominentes Beispiel war das Gebrüder-Herrnfeld-Theater.
Andere jüdische Organisationen wie etwa der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) waren in Kreuzberg aktiv und setzten sich für jüdische Rechte und für die Bekämpfung des wachsenden Antisemitismus ein. Der CV verfolgte das Ziel, die Integration von Jüdinnen und Juden in die deutsche Gesellschaft zu fördern und gleichzeitig jüdische Identität und Tradition zu bewahren, ein Anspruch, der umso schwerer umzusetzen war, je feindseliger das politische Klima in den frühen 1930er Jahren wurde.
Als 1933 das Nationalsozialistische Regime an die Macht kam, verschlechterten sich die Bedingungen für das jüdische Leben in Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg nicht anders als im restlichen Deutschland schnell. Die Nazi-Gesetzgebung nahm jeden Aspekt jüdischen Lebens ins Visier, von der Erziehung zu den kulturellen Einrichtungen, und entzog jüdischen Bürgerinnen und Bürgern ebendiejenigen Rechte, die es ihren Gemeinden ermöglicht hatten, zu gedeihen. 1935 erzwang die Nazi-Regierung den Zusammenschluss aller jüdischen kulturellen Institutionen im ‚Reichsverband jüdischer Kulturbünde in Deutschland‘. Diese Körperschaft, die der Kontrolle des Reichsministeriums für Propaganda unterstand, wurde als Mittel zur Isolation und Segregation der jüdischen Kultur innerhalb des umfassenderen Gefüges der deutschen Gesellschaft eingesetzt.
Die kleinen aber lebenssprühenden Jüdischen Gemeinden in Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg waren keinesfalls immun gegen die Schrecken, die folgen sollten. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden diese Nachbarschaften mit ihren Strukturen und Dynamiken, einst Mikrokosmen jüdischer Vielfalt und Resilienz, verwüstet und zugrunde gerichtet. Die jüdische Bevölkerung wurde durch Deportation, Zwangsemigration und den Holocaust weitestgehend ausgelöscht. Zurück blieben nur Spuren der einstmals blühenden Gemeinden, die Großartiges zum kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben Berlins beigetragen hatten.
Literaturhinweise:
Berliner Geschichtswerkstatt e.V. (1991) Juden in Kreuzberg. Fundstücke, Fragmente, Erinnerungen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 18. Oktober bis 29. Dezember 1991 im Kreuzberg-Museum (in Gründung), Berlin.
Galliner, N., & Bendt, V. (1987). Wegweiser durch das jüdische Berlin: Geschichte und Gegenwart. Nicolai.
Koberstein, T. & Stein, N. (1995). Juden in Lichtenberg – mit dem früheren Ortsteilen in Friedrichshain, Hellersdorf und Marzahn, Kulturbund e.V. (Hrsg).
Kolland, D. (Ed.). (2012). Zehn Brüder waren wir gewesen: Spuren jüdischen Lebens in Neukölln. Hentrich & Hentrich.