Olaf Kühnemann | Kreuzberg
Child, 2024
Olaf Kühnemann ist ein israelisch-deutscher Maler, wobei keine dieser beiden Kategorien seine Identität komplett erfasst. Seine deutschen Eltern lernten sich in der Schweiz kennen, wo Olaf im Jahr 1972 geboren wurde. Nach der Trennung der Eltern zog die Familie mit dem neuen jüdisch-israelischen Partner der Mutter nach Kanada. Als er acht Jahre alt war, zogen sie nach Israel, wo er den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbrachte. Im Jahre 2009 zog Olaf Kühnemann nach Berlin, wo er gegenwärtig mit seiner Familie lebt und in seinem Atelier in Kreuzberg arbeitet. Fragen der Identitätsbildung und –transformation waren daher immer schon richtungsweisend für seine künstlerische Praxis.
Kühnemann verwendet oft Familienfotografien als Ausgangspunkte für sein Geschichtenerzählen. Auch das ausdrucksstarke Gemälde „Child“ („Kind“) ist von einem alten und verblassenden Kindheitsfoto inspiriert. Es zeigt seine Mutter im Alter von drei oder vier im Garten ihres Elternhauses in Berlin. Im Hintergrund hängen Kleider für ein kleines Mädchen von einer zwischen zwei Bäumen gespannten Wäscheleine, was den Eindruck der Unschuld und Friedfertigkeit eines Kinderspiels vermittelt. Die Fotografie, die auf den ersten Blick einen idyllischen Kindheitsmoment festhält, ist nur wenige Jahre nach dem Krieg entstanden, als die Ruinen Berlins nach dem Alliierten Luftkrieg noch immer sehr gegenwärtig waren. Der Widerspruch zwischen der Stille und Ruhe des Bildes und der es umgebenden Zerstörung ist in dem Gemälde fühlbar. Es ist entschieden kein Ort der Sehnsucht und Nostalgie. Der Garten im Hintergrund ist auf abstrakte, schwere graue Pinselstriche reduziert, und das zurückgelehnte Kind wirkt isoliert und verwundbar und erzeugt den Eindruck einer unheilvollen Trostlosigkeit. Vor dem Hintergrund der Biographie der Mutter des Künstlers, die im „Land der Täter“ aufwuchs, hallen in diesem Gemälde die verheerenden Zyklen transgenerationaler Kriegstraumata nach und evozieren die Zerbrechlichkeit von Kindheiten, die von sichtbaren und unsichtbaren Kriegswunden betroffen sind.
Die Bedeutungen, die aus dem Kunstwerk hervorgehen, gewinnen zusätzliche Komplexität, wenn sie im spezifischen Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden. Kühnemann wurde von der israelischen aktivistischen Organisation ‚Parents Against Child Detention‘ („Eltern gegen die Inhaftierung von Kindern“) eingeladen, einen Beitrag zur wandernden Gruppenausstellung „Innocence Disrupted: Children in Wartime“ („Zerstörte Unschuld: Kinder in Kriegszeiten“) zu leisten. Die Ausstellung, die an öffentlichen Orten in Tel Aviv und Jerusalem gezeigt wurde und in Jerusalem von rechten jüdischen Extremisten gewaltsam angegriffen wurde, forderte ein Ende des Krieges in Gaza und die Verhinderung weiteren Leidens von Kindern in Israel, Gaza und im Westjordanland. Sie hatte dabei den Anspruch, auf das Leid von Kindern und auf ihr stummes Schreien aufmerksam zu machen.
Die Verknüpfung des deutschen Nachkriegstraumas mit dem aktuellen traumatischen Krieg in Israel und Palästina offenbart den verschlungenen gordischen Knoten, der die Schicksale der drei Völker an einander bindet. Die Darstellung dieser komplexen Verwobenheit kann als eindringliche Mahnung gelesen werden, emphatisch auf das Leiden anderer zu reagieren, und dies trotz ihrer Andersheit. Das Werk überwindet auch die homogenisierende Täter-Opfer-Binarität, die nur allzu oft den dominanten Diskurs über die deutsch-israelisch-palästinensischen Beziehungen kennzeichnet. Es legt uns die Vision eines Möglichkeitsraumes vor, in dem verschiedene Gruppen die Lasten und Bürden der ererbten Traumata der anderen erkennen und anerkennen können, nicht im Sinne einer Logik der Opferkonkurrenz, sondern mit Blick auf die dringende Notwendigkeit von Veränderung.